Weitere Reationen zur Stellungnahme des DGN


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ist kopiert und eingefügt.
Forschungsstand
zu ME/CFS: Fatigatio e.V.
zur Stellungnahme der DGN
25.07.2025 07
Fatigatio e.V.
 
Aktuelles Presse

Die Deutsche Gesellschaft
für Neurologie (DGN)
hat zu ME/CFS
im Juli 2025
eine sogenannte
 „Stellungnahme“
veröffentlicht.
 
Dieser, ohne Literaturhinweise
oder wissenschaftliche Belege
versehene Beitrag
verkennt zentrale Erkenntnisse
der spezialisierten
internationalen ME/CFS-Forschung,
reproduziert unkritisch
veraltete Narrative
und gefährdet
durch seine einseitige Deutung
die gesundheitliche Versorgung
und Anerkennung
hunderttausender Betroffener
in Deutschland.

Es ist unklar,
welche Zwecke die DGN
mit diesem Beitrag
verfolgt.
 
Es handelt sich jedoch
um eine Aneinanderreihung
von Halb- bis Unwahrheiten,
die im Ergebnis zu einer Verfestigung
schädigender Betrachtungsweisen
der Erkrankung ME/CFS führen.

Wir widersprechen der Darstellung
der DGN in zahlreichen Punkten.
Unsere Begründung im Einzelnen
(mit ausgewählten Literaturbelegen):

1. Wissenschaftlich nicht haltbare Pauschalaussage

Die Eingangsdarstellung
über eine uneinheitliche Sichtweise
auf das Krankheitsbild
erinnert an Diskurse
über den Klimawandel.
 
Auch dieser wird von Interessengruppen als
„umstritten“ dargestellt,
weil es –
wissenschaftlich nicht haltbare –
Beiträge
von Interessengruppen gibt,
die den Klimawandel leugnen.
 
Die wissenschaftlichen
Entwicklungen der letzten Jahre
belegen jedoch ganz klar
die biologisch-somatische
Krankheitsgenese von ME/CFS.
 
Dies ließ sich eindrucksvoll
u. a. auf der diesjährigen
"International ME/CFS Conference"*
in Berlin feststellen,
bei dem zahlreiche Studienergebnisse
mit Nachweis der somatischen
Pathophysiologie vorgestellt wurden. 
 
Auch die zahlreichen
aktuellen Publikationen
auf dem Gebiet mit vielfältigen Pathologien im Bereich
Immunologie,
Mikrozirkulation
und Zellstoffwechsel
beweisen dies nachdrücklich.

Die Diskussion über
einen bisher nicht gefundenen
Biomarker und die damit
zusammenhängende Unsicherheit
bei der Diagnosestellung
ist so alt wie das Krankheitsbild.
 
Dabei ist bei zahlreichen
Krankheiten die Diagnose
durch Anamnese und
Untersuchungsbefund
zu stellen –
als klinische Diagnose.
 
Wir weisen daher
auf die Analogie zu anderen
Krankheitsbildern hin,
die anhand des klinischen Bildes
diagnostiziert werden.
 
Auch bei der
Parkinson-Erkrankung
oder Migräne
gibt es keinen Blutwert,
der die Diagnose
beweisen würde.

Die Behauptung der DGN,
es gebe keine objektivierbaren
Krankheitsmarker,
ist daher irreführend.
Die klinischen Diagnosekriterien
wie z. B. die Kanadischen
Konsenskriterien (CCC)
ermöglichen in der Zusammenschau
mit einer strukturierten
PEM-Erfassung
(Post-Exertional Malaise)
und notwendiger
Differentialdiagnostik
die Diagnose.

Die klinische Diagnose
kann durch Laboruntersuchungen
unterstützt werden –
etwa immunologische Veränderungen
wie z. B. Autoantikörper
gegen ß1-/ß2-Adrenozeptoren
oder muskarinerge Acetylcholinrezeptoren (M3/M4)
oder Zytokinveränderungen.
 
In den letzten Jahren
gab es zahlreiche Studien
mit biochemisch nachweisbaren
Veränderungen im Bereich
Immunologie, Zellstoffwechsel
und Perfusion.
 
Klinisch lässt sich auch
die Post-Exertional Malaise
mit geeigneten Untersuchungen
objektiv, z. B. mit einem
wiederholten kardiopulmonalen
Belastungstest, nachweisen – allerdings unter Inkaufnahme
einer möglichen Schädigung
der Erkrankten,
was wir als
Patientenorganisation
nicht befürworten.

Die pauschale Leugnung
dieser Befunde durch die DGN
ignoriert den Stand
der internationalen Forschung
und zementiert ein
veraltetes Krankheitsverständnis.
Als Patientenorganisation
möchten wir den
bisher nicht mit ME/CFS vertrauten
Führungspersönlichkeiten
der DGN empfehlen,
die Vorträge des
ME/CFS-Symposiums zu rezipieren -
sie sind online verfügbar.

2. Ablenkende Begriffsproblematik

Die DGN stellt infrage, ob die Bezeichnung „Enzephalomyelitis“ korrekt sei – und macht keinen besseren Vorschlag.
 
Die Argumentation hierzu
ist irreführend und lenkt auf
einen Nebenschauplatz,
da suggeriert wird,
dass es sich deshalb bei ME/CFS
gar nicht um ein
neurologisches Krankheitsbild
handele.
 
Historische medizinische Begriffe
können aber auch
unzutreffend sein,
wie die Beispiele Multiple Sklerose
(„vielfache Narben“ im Gehirn)
oder die klassische
„Blinddarmentzündung“
zeigen, die eigentlich
eine Entzündung
des Wurmfortsatzes ist.

• Der Begriff
Myalgische Enzephalomyelitis
(ME)
stammt aus historischen Fallserien
der 1930er bis 1950er Jahre,
in denen unbekannte,
postinfektiöse Krankheitsbilder
mit neurologischer Beteiligung
beschrieben wurden.
 
Damals war es
wissenschaftlicher Standard,
Krankheitsverläufe
anhand klinischer Symptome
zu benennen –
auch ohne bildgebende
oder molekulare Diagnostik,
die es noch nicht gab.
 
Die Bezeichnung ME
ist daher historisch
und nicht wortwörtlich
als nachweisbare Entzündung
von Gehirn oder Rückenmark
zu verstehen.
Auch die Bezeichnung „CFS –
Chronisches Fatigue-Syndrom“
ist irreführend,
weil sie der Komplexität
der Erkrankung und insbesondere
der PEM
nicht gerecht wird.

• Sowohl von Fachkreisen
als auch Patientenorganisationen
ist immer wieder auf die
unglückliche Begriffsfindung
der Krankheitsbezeichnung
hingewiesen worden.
 
Hier wäre eine Lösung,
die Begrifflichkeit
ähnlich anzuwenden,
wie IQWiG und NIC
es seinerzeit getan haben,
durch Verwendung des Begriffs
„Enzephalopathie“.
 
Diese liegt unbestritten
mit zahlreichen nachweisbaren
klinischen und bildgebenden
Befunden vor.

Ganz aktuelle Daten
aus einer 7-T-MRT-Studie
weisen erhöhte Lactat-Spiegel
im Gehirn
von ME/CFS-Kranken nach [1] –
ein Befund,
der in die gleiche Richtung geht
wie die Untersuchungen
zur Mitochondrien-Funktion
im Skelettmuskel [2].

3. Fehlinterpretation
der zentralen Symptomatik:
Post-Exertional Malaise

Die DGN relativiert
das zentrale Leitsymptom
von ME/CFS:
die Post-Exertional Malaise (PEM) –
eine verzögerte, unverhältnismäßige
und oft mehrtägige Verschlechterung
aller Symptome nach körperlicher,
kognitiver oder emotionaler Anstrengung.
 
Dabei wird von der DGN
zwar noch dargestellt,
dass PEM erlaubt,
zwischen Gesunden und Kranken
zu unterscheiden.
 
Dass die genauen Mechanismen
dabei noch nicht aufgeklärt sind,
ist der mangelnden
Forschungsaktivität
der letzten Jahrzehnte anzulasten.
 
Auch der grundlegende
ursächliche Mechanismus
der immunologischen Fehlsteuerung
der Multiplen Sklerose
ist noch nicht aufgeklärt.
Das Raunen der DGN
von „Unklarheit“
über die Mechanismen
entwertet die Bedeutung,
die der PEM zukommt.

• PEM ist diagnoseentscheidend –
sowohl nach den
Kanadischen Konsenskriterien (2003)
als auch in der aktuellen
NICE-Leitlinie (UK, 2021).
Ohne den Nachweis von PEM
ist eine ME/CFS-Diagnose
nach diesen international
anerkannten Standards nicht zulässig.

• PEM stellt ein zentrales
Unterscheidungsmerkmal
zu psychischen Erkrankungen
wie Depressionen dar:
Während bei Depressionen
körperliche Aktivierung
häufig als unterstützend wirkt,
führt sie bei ME/CFS-Betroffenen
häufig zu einer signifikanten,
krankheitsverschärfenden
Zustandsverschlechterung.

• Die häufig bemühte Annahme
einer Dekonditionierung
(körperlicher Abbau durch Inaktivität)
als primäre Ursache
für die Symptome
ist durch aktuelle Studien
klar widerlegt [2].

• Die Darstellung der DGN
verkennt damit nicht nur
die Bedeutung von PEM
für die klinische Abgrenzung,
sondern riskiert auch
eine gefährliche Fehlversorgung –
etwa durch empfohlene
Aktivierungstherapien,
die nachweislich zu Zustandsverschlechterungen
führen können.

4. Stigmatisierende Darstellung

• Der Aussage der DGN,
es handele sich
„um ein schwer eingrenzbares
Beschwerdebild,
das teilweise anatomisch
und physiologisch
nicht erklärbare Formen“ annehme,
muss entschieden
widersprochen werden.
Hiermit wird suggeriert,
dass ein solches Krankheitsbild
ja gar nicht vorkommen könne.

Die aktuelle Pathophysiologie
geht von einer Kombination
mitochondrialer Schädigung
mit Defiziten in der
Mikrozirkulation aus,
wie Scheibenbogen und Wirth
in zahlreichen Publikationen
belegt haben.
 
Der ubiquitär im Körper
vorhandene Bedarf an Energie
(in Form von ATP)
und Sauerstoff
(transportiert mittels Zirkulation)
erklärt ohne Schwierigkeiten
die Vielgestaltigkeit
der Symptome
und die schwere Beeinträchtigung
der Erkrankten.
Überlappungsphänomene
mit anderen Krankheitsbildern
kommen bei zahlreichen
anderen Erkrankungen vor.
 
Auch eine Komorbidität
als reaktive,
sekundäre Depression
durch die Belastungen
durch ME/CFS
ist hier zu nennen –
ähnlich wie bei anderen
schweren Erkrankungen,
z. B. aus dem onkologischen Bereich.

• Die Heterogenität
von Patientenkohorten
in Studien ist seit Jahren
ein Kritikpunkt
der Patientenorganisationen
und spezialisierter
Wissenschaftler:innen.
 
Insbesondere die
seit Jahren diskreditierte
PACE-Studie,
die immer wieder als Beleg
für eine psychosomatisch
orientierte therapeutische
Strategie verwendet wird,
ist hier zu nennen,
da PEM hier kein
obligates Kriterium
für den Einschluss
in die Studie war.

Daraus kann nur der Schluss
gezogen werden,
es in Zukunft besser zu machen
und an gut charakterisierten
Kohorten zu forschen,
wie es jetzt die ersten
Studienkonsortien beabsichtigen.

• Der Mangel an evidenzbasierten
Therapieverfahren
ist der jahrzehntelang
vernachlässigten biomedizinischen
Forschung zuzuschreiben.
 
Die Fokussierung auf
psychosomatische Fragestellungen
in der Vergangenheit
und die mangelnde Finanzierung
der notwendigen
Grundlagenforschung
ist dabei auch
der wesentliche Treiber
des Desinteresses
der Pharmaindustrie. 
 
Der „erfolgreiche“ Wildwuchs
an alternativen Therapien
resultiert dabei aus
der Verzweiflung der Erkrankten.

Hinsichtlich fehlender Evidenz
ist jedoch auch
der „klassische Ansatz“
von CBT 
("Cognitive Behavioral Therapy" -
Kognitive Verhaltenstherapie)
und GET
("Graded Exercise Therapy" - abgestufte Bewegungstherapie)
zu nennen.
 
Diese Verfahren haben entweder
keine kausale Wirksamkeit
und können lediglich
supportiv empfohlen werden
(CBT, NICE),
oder sie haben
Schädigungspotenzial,
und es wird
ausdrücklich abgeraten
(GET, IQWiG).

5. Abwehr einer immunologischen Perspektive durch die DGN

Warum die Kommission
„Neuroimmunologie“ der DGN
es kurz vor Auswertung
einer dringlich erwarteten Studie
zur Immunadsorption bei ME/CFS
mit ausgefeiltem Studiendesign
für notwendig hält,
fehlende immunologische Ergebnisse
hervorzuheben,
ist für Außenstehende rätselhaft.

Die Verallgemeinerung
auf eine allgemeine
immunologische Krankheitsgenese
ist hier auch nicht zulässig,
denn sie ist durch
zahlreiche Publikationen
aus der Immunologie belegt.

6. „Zukunftsvision der DGN“

Die Forderung
nach breit
aufgestellter Forschung
ist uneingeschränkt
zuzustimmen.
 
Auch außerhalb
immunologischer Fragestellungen
sind entscheidende Ergebnisse 
zur Aufklärung
des Krankheitsmechanismus
zu erwarten.

Allerdings ist
die besondere Hervorhebung
der psychischen und
psychosomatischen
sowie funktionellen Störungen
als Framing abzulehnen.
 
In diesen Fachgebieten wurde
in den letzten Jahrzehnten
intensiv geforscht,
ohne dass es
zu erfolgreichen Ergebnissen
gekommen wäre,
die einer kritischen
Überprüfung standhielten.
 
Dies wundert nicht,
da man eine
körperliche Erkrankung
nicht mit Psychotherapie
heilen kann.
Wie mit der Kraft
veränderter Gedanken
nach einer Psychotherapie
der Laktat-Gehalt
in der Muskulatur verändert
oder eine überschießende
Immunreaktion
gedämpft werden soll,
bleibt das Geheimnis
der Verfechter
dieser Hypothesen.
Aus unserer Sicht
hat das mit wissenschaftlicher
Herangehensweise
nichts zu tun.

Die DGN betont
den „Schutz“ der Patientinnen
und Patienten,
unterstellt aber gleichzeitig
implizit psychosomatische
oder funktionelle Ursachen –
ohne Evidenz.

Selbstverständlich
müssen Erkrankte
vor sinnlosen
und schädigenden
Therapieverfahren
geschützt werden.
Die behutsame Aufklärung
und empathische Darstellung
der Schwere der Erkrankung
und der fehlenden
kausalen Therapie
ist dabei ein wichtiger Aspekt.
 
Die DGN
suggeriert hier jedoch,
es gebe keinerlei Medikamente.
Dies ist verkürzt dargestellt
und falsch.
Die schon vorliegende
Medikamentenliste
für den In-Label-Use
und die in Kürze
erscheinende Liste
für den Off-Label-Use bieten
therapeutische Optionen.

Aussagen zur Suizidalität
wirken dabei beinahe zynisch,
wenn gleichzeitig
die hoffnungslose Situation
vieler Patienten,
die mangelnde Versorgung,
die fehlende Anerkennung
als somatisch erkrankt,
der finanzielle Ruin
und die soziale Isolation
nicht als strukturelle Probleme
benannt werden,
die ursächlich für
die Suizidalität
der Betroffenen sind.

Wir unterstützen
daher nachdrücklich
eine auf die
speziellen Bedürfnisse
von ME/CFS-Erkrankten
ausgerichtete Psychotherapie.
 
Diese ist jedoch nicht pauschal
– wie von der DGN suggeriert –,
sondern
situationsbezogen geboten.

Fazit

Die Stellungnahme der DGN ist nicht mit dem aktuellen internationalen Stand der Wissenschaft vereinbar.
Sie ignoriert zentrale
pathophysiologische
Erkenntnisse,
verkennt das Leitsymptom
PEM
und fördert eine
stigmatisierende Sicht
auf die Erkrankung.

Die DGN steht vor der Wahl: Entweder sie bleibt
Teil des Problems –
oder sie wird
Teil der Lösung.

 

* Zweitägige wissenschaftliche
Konferenz zu Versorgung,
Forschung und Therapie
von ME/CFS
(Myalgische Enzephalomyelitis/
Chronisches Fatigue Syndrom)
und Post-COVID-Syndrom
für Ärztinnen und Ärzte,
medizinisches Fachpersonal,
Forschende und interdisziplinäre
Expertinnen und Experten
aus den Bereichen
Medizin und Biologie.
 
Die Videos, Präsentationen
und Zusammenfassungen
der Vorträge sind auf
mecfs-research.org
und auf YouTube verfügbar.

[1] Godlewska, B.R.,
et al., Brain and muscle
chemistry in myalgic
encephalitis/chronic
fatigue syndrome (ME/CFS)
and long COVID:
a 7T magnetic resonance
spectroscopy study.
Mol Psychiatry, 2025.
(https://www.nature.com/
articles/s41380-025-03108-8)

[2] Charlton, B.T.,
et al., Skeletal
muscle properties
in long COVID and ME/CFS
differ from those
induced by bed rest.
medRxiv, 2025: p. 2025.05.02.25326885.
 
( https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2025
.05.02.25326885v1)

Eine Gegenposition
der Lost Voices Stiftung
gemeinsam mit Fatigatio e.V.
und vielen weiteren
Patientenorganisationen
kritisiert die Stellungnahme
der DGN zu ME/CFS
und ist  hier abrufbar.
 
Das gemeinsame Schreiben
wird direkt an die Autoren
der DGN-Stellungnahme
verschickt.

Widerspruch zur Stellungnahme der DGN über den Forschungsstand bei ME/CFS
© 2025 Fatigatio e.V.
Gefördert durch die AOK

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